Jens Spahn: Meine Vision von Deutschland in Europa

beratung-erdkunde-europa-269790

Ein lesenswerter Artikel über ein Europa, wie es funktionieren könnte. Ohne „Merkelsches Dogma“ einer Europaherrschaft.

Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung am 05.12.2018

Ich zitiere:

„Jens Spahn: Meine Vision von Deutschland in Europa

Die meisten Europäer hängen an ihrer Herkunftsidentität und wollen ihre nationale Souveränität nicht einfach abgeben. Sie träumen weder von einem Euro-Superstaat noch von einem Euro-Finanzminister. Ein Plädoyer für mehr Realismus, weniger Sonntagsreden und kluge Investitionen in die Zukunft.

Deutschland hat eine besondere Verantwortung in Europa. Wir liegen geografisch in der Mitte, sind wirtschaftlich sehr stark und exportieren viel, vor allem nach Europa. Nach zwei verheerenden Kriegen haben wir zusammen mit Frankreich ein einzigartiges Friedensprojekt geschaffen. Das zu bewahren und zu stärken, sehe ich als Aufgabe meiner Generation. Heute und in Zukunft kann die EU unser Bollwerk gegen die Herausforderungen der Globalisierung sein. Sie ist unsere Chance, gegenüber bevölkerungsreichen, dynamischen und selbstbewussten Nationen wie China oder Indien zu bestehen.

Leider hat meine Partei, die CDU, aktuell die Meinungs- und Ideenführerschaft zur Weiterentwicklung der EU verloren. Das ist inakzeptabel für die Partei von Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Aber wir haben die Chance, das zu ändern. Was wir brauchen, ist ein neues Leit-Narrativ für die EU. Mehr Realismus, weniger Sonntagsreden. «Bürger schützen, Globalisierung gestalten, Digitalisierung als Chance nutzen», muss die Parole sein.

Nationen und ihre Identität

Ausgangspunkt ist meine feste Überzeugung, dass die große Mehrheit der europäischen Nationen ihre historische und kulturelle Identität bewahren und ihre politische Souveränität nicht aufgeben will. Warum wird trotzdem immer wieder der Eindruck erweckt, wir müssten in zehn bis fünfzehn Jahren einen europäischen Superstaat formen? Als Union starker Mitgliedstaaten muss die EU wieder konkrete Verbesserungen erreichen und dabei auch den Mut zu großen Projekten haben. Strohhalme zu verbieten, um die Weltmeere zu retten, ist für Europa einfach zu kleines Karo.

Mir schwebt ein Europa der Pioniere vor: Einige gehen mit Mut voran und ebnen den Weg.

Die EU ist neben den USA und China die grösste Volkswirtschaft der Welt. Wirtschaftliche Stärke ist die Voraussetzung für bezahlbare Renten, gute Krankenversorgung, funktionierende Verwaltung und Infrastruktur. Dazu brauchen wir einen starken produzierenden Sektor und die massive Förderung von Innovation. Deutschland muss in der EU darauf drängen, dass Ausgaben endlich vernünftig erfolgen. Der mehrjährige Finanzrahmen der EU umfasst Mittel von mehr als einer Billion Euro. Damit dürfen wir nicht kleckern, sondern müssen klotzen.

Erstens: Bauen wir ein europäisches Stanford für Spitzenforschung und -lehre in künstlicher Intelligenz, Blockchain-Technologie, Big-Data-Anwendungen und Algorithmen auf. Mit Airbus haben wir es schliesslich auch geschafft, dem damals übermächtigen Boeing-Konzern Paroli zu bieten. In den USA und China stehen riesige Server-Farmen. Wie wäre es, eine europäische Cloud zu schaffen, die eine echte Alternative zu Alibaba, Amazon und Google ist?

Zweitens: Warum gibt es immer noch keinen europäischen Venture-Capital-Fonds von Durchschlagskraft? Die Amerikaner können viel schneller und mehr Wagnis- und Wachstumskapital für junge Unternehmen mobilisieren. Um diese Lücke zu schließen, sollte sich die Europäische Investitionsbank engagieren. Zum Beispiel in Form von Co-Investitionsfonds. Wir brauchen zusätzliche Milliarden, nicht Millionen.

Drittens: Wir sollten innovative Unternehmen und Forschungseinrichtungen in wettbewerbsschwachen Teilen der EU fördern und die Mobilität innerhalb der EU verbessern. Das Erasmus-Programm für Studenten ist eine gute Sache. Die EU sollte etwas Ähnliches für Facharbeiter und Angestellte entwickeln. Dann kann nicht nur der 20-jährige Informatikstudent anderswo in Europa lernen, sondern auch die 16-jährige Mechatronik-Auszubildende und der 40-jährige Elektriker.

Klares Bekenntnis zum Freihandel

Wir dürfen aber nicht nur auf uns schauen. Alleine die Warenexporte aus der EU in Drittstaaten betrugen im Jahr 2016 rund 1,75 Billionen Euro. Das bleibt nur so, wenn wir uns weiter zum Freihandel bekennen und bereit sind, mit unseren Partnern auf der ganzen Welt neue Handelsabkommen abzuschliessen.

Genau wie der Handel sorgt auch die europäische Finanzpolitik zunehmend für Skepsis. Sie ist zu einem reinen Krisenthema geworden. Die Zukunft unserer gemeinsamen Währung bereitet Millionen Bürgern Sorgen, nicht zuletzt aufgrund der weiterhin unsoliden Haushaltspolitik einzelner Mitglieder der Euro-Zone. Davon betroffen ist hierzulande vor allem die Mittelschicht: Krankenpfleger, Polizisten und Angestellte leiden unter der Null-Zins-Politik, steigenden Mieten und Immobilienpreisen.

Ich habe deshalb keinerlei Verständnis für die immer wiederkehrenden Vorschläge, die auf eine umfassende Haftungsgemeinschaft abzielen. Ich sehe mich mit vielen Menschen in ganz Europa im Einklang: Wir brauchen keinen Euro-Superstaat, keinen Euro-Finanzminister, keine Euro-Steuern. Das alles ist keine Vision für Europa, das ist ein Albtraum, der das Friedensprojekt EU sprengen kann. Neue Ressentiments, Unzufriedenheit und Missgunst würden damit gefördert werden. Wir wollen aber in neue Jobs investieren und nicht Arbeitslosigkeit umfinanzieren!

Deswegen muss auch der Stabilitätspakt wieder glaubwürdig werden. Wir müssen weg von diesen vielen Ausnahmen und immer neuen Regeln. Als Vorbild könnte die deutsche Schuldenbremse dienen: klar, transparent, verständlich. Ein Europäischer Währungsfonds als Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) könnte in Krisensituationen zur Stabilisierung beitragen. Die bereitgestellten Mittel müssen mit klaren Auflagen verbunden sein. Das würde die Widerstandskraft der Euro-Zone stärken, ohne die Haftung zu vergemeinschaften.

Europas Aussengrenze schützen

Ich bin dafür, die Vorschläge von Emmanuel Macron für eine europäische Verteidigungsunion aufzugreifen. Wir sollten gemeinsame Einheiten und Militärmissionen aus dem EU-Haushalt finanzieren. Dazu gehört ein Europäischer Sicherheitsrat, der die Aussenpolitik der EU bestimmt. Damit werden wir international handlungsfähiger und gewinnen an weltpolitischem Gewicht. Gleichzeitig stärkt dies die Verbundenheit in Europa.

Freier Personen- und Warenverkehr ist das Kernversprechen der EU, dafür braucht es aber einen wirksamen Schutz der Aussengrenzen. Ich plädiere dafür, dass Frontex deutlich mehr Befugnisse, Geld und Personal bekommt. Nicht Schlepper und Schleuser, sondern wir Europäer müssen verbindlich an der Grenze entscheiden, wer unserem Staatenverbund betritt – und wer nicht.

Mir schwebt ein Europa der Pioniere vor: Einige gehen mit Mut voran und ebnen den Weg. Schon bei Schengen und der Euro-Zone mussten nicht alle Staaten mitmachen. Dieses Modell haben wir nun bei der Verteidigungsunion wiederholt: Deutschland und Frankreich haben begonnen und andere eingeladen, mitzumachen. Immer inklusiv, nie exklusiv. Die allermeisten Mitgliedsstaaten wollten dann schnell dabei sein. Dieses Modell sollte das Grundprinzip der weiteren Entwicklung sein. Es ermöglicht Fortschritte ohne Blockade.

Wir brauchen neue Modelle der Nachbarschaftspolitik. Gegenüber Grossbritannien ebenso wie Richtung Osten (Ukraine, Weissrussland), für die Türkei oder Nordafrika. Grossbritannien muss auch nach einem Austritt ein enger Verbündeter bleiben. Die Zollunion mit der Türkei weist ebenso einen Weg für Modelle künftiger Zusammenarbeit wie das EU-Türkei-Abkommen. Eines ist aber klar: Eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU ist nicht realistisch, wir sollten die Beitrittsverhandlungen beenden. Das wäre ehrlicher und gäbe den Weg für ein Nachbarschaftsabkommen frei.

Polen und Ungarn gehören dazu

Für all das braucht Europa einen neuen Zusammenhalt. Deutschland muss Mittler zwischen Ost und West sein. Polen und Ungarn gehören dazu, unsere Freundschaft zu Ländern muss unabhängig von kritischen Auseinandersetzungen zwischen Regierungen sein. Wir leben nicht mehr im Europa der 15. Im Europa der 27 nehmen wir nicht nur geografisch eine Position der Mitte ein. Um die Polarisierung in Europa zu überwinden, müssen wir alle Mitgliedstaaten ernst nehmen und mit ihnen auf Augenhöhe diskutieren.

Das alte Versprechen, dass es der nächsten Generation (noch) besser gehen wird, lässt sich auch heute noch halten. Dafür müssen wir aber den Mut haben, Europa neu zu denken.

Jens Spahn ist seit März 2018 deutscher Gesundheitsminister. Der 38-jährige CDU-Politiker ist Bankkaufmann und Politologe. Am Freitag, 7. Dezember, kandidiert er für den Parteivorsitz in der CDU.“